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Die Legende vom Riesenkraken

 
Seeungeheuer - Illustration in einer Kirche 
in St. Malo in der französischen Bretagne.

In jeder Legende, heißt es, sei ein Korn Wahrheit. In der Legende vom Riesenkraken ist, wie wir heute wissen, mehr als nur ein Korn Wahrheit. Andererseits ist aber auch ein gerüttelt Maß Unwissenheit in den Zutaten zu den meisten Schauergeschichten von vielarmigen Seemonstern, die unachtsame Seeleute in den Tiefen des Meeres erwarten.

Eines ist sicher - das Meer mit seinen unerforschten Tiefen, so nah es uns auch sein mag, ist uns dennoch auf eine gewisse Art und Weise ferner als der Weltraum. Die Lebewesen, die in der Tiefsee zu Hause sind, kennen wir oftmals nur aus dem Fang der Tiefseefischerei und dann nie lebendig, da die an den hohen Wasserdruck der Tiefsee gewöhnten Tiere in geringeren Wassertiefen ebenso jämmerlich zugrunde gehen, wie wir, wenn wir ohne die schützende Hülle der Taucherglocke versuchen würden, diese Tiefen zu erreichen.

Die Legende vom vielarmigen Seeungeheuer ist wahrscheinlich schon so alt, wie die menschliche Seefahrt. Homer beschreibt in seiner Odyssee im 7. Jahrhundert vor Christus Skylla und Charybdis, die in einer Meerenge die Seefahrt bedrohen. Kommt man ihr zu nahe, zieht die Charybdis das Schiff in ihren Schlund, andernfalls fängt die Skylla die Seeleute vom Deck weg und verschlingt sie. Diese Skylla beschreibt Homer als ein Seeungeheuer, das mit seinem Hinterleib im Felsen steckt. Sie hat viele Arme mit Köpfen daran und fängt nicht nur Seeleute, sondern auch Meerestiere, die in Reichweite ihrer Arme gelangen. Den Kundigen erinnert diese Beschreibung entfernt an einen Kraken, der ebenso wie die Skylla mit dem Hinterleib in einer Felsspalte versteckt bleibt und nur mit den Fangarmen in das umgebende Wasser hinausreicht, um sich Nahrung zu verschaffen. Im Gegensatz zur Skylla sind die in Homers Heimatgewässern vorkommenden Kraken im Maximalfalle einen Meter groß und keineswegs so groß dass sie ein Schiff oder seine Insassen bedrohen könnten.

Einige Jahrhunderte nach Homer beschreibt Plinius der Ältere, kurz nach Christi Geburt, wie ein riesenhafter "Polyp" mit zehn Meter langen Armen in Carteia in Spanien die nahe der Küste gelegenen Fischteiche geplündert habe. Die Wachen töteten das Ungeheuer, das einen äußerst unangenehmen Geruch verbreitet habe. Die Bezeichnung "Polyp", die Plinius für das Tier verwendete, bezeichnet ein vielarmiges Tier. Heute wird diese Bezeichnung nur noch auf eine Generation der Hohltiere verwendet, die sesshafte (sessile) Form der Quallen.


Seeschlange aus dem Werk des Olaus Magnus.
 

Der Begriff Krake geht auf das Norwegische zurück. Im 17. Jahrhundert beschreibt der schwedische Bischof Olaus Magnus, einen eine Meile langen Kopffüßer, den er den Kraken nennt. Die Beschreibung geht auf Schilderungen norwegischer Fischer zurück, die Olaus Magnus auf seinen Reisen in den skandinavischen Ländern kennen gelernt hat. 

Die Beschreibung des Kraken aus der Naturgeschichte der nordischen Völker von Olaus Magnus (1565).

Er schreibt von monströsen Fischen, deren Gestalt schrecklich sei, deren viereckiger Kopf lange Hörner habe, wie ein Baum Wurzeln und deren Auge starr und grausam, eine Elle groß und von tiefroter Farbe. Es erscheint wahrscheinlich, dass, wenn Olaus Magnus schon nicht selber einen Kraken gesehen hat, zumindest die Fischer, die ihm berichteten, Augenzeugen waren. Der Bericht umfasst eine Größenbeschreibung des Kraken von zehn Ellen Umfang und einer Armlänge von nochmals 10 Ellen. Geht man davon aus, dass eine Elle regional zwischen 50 und 80 cm betrug, so muss der Olaus'sche Krake bis zu 16 Meter groß gewesen sein.

Nach Olaus Magnus haben weitere skandinavische Naturforscher - Hans Egede, Bischof von Grönland, und der norwegische Bischof Pontoppidan - vom Kraken berichtet. In seiner Naturgeschichte von Norwegen schreibt Pontoppidan vom Kraken, den die Fischer in etwa 150 Meter Tiefe finden. Der Rücken des Kraken habe bis zu anderthalb Meilen Umfang, so groß wie eine kleine Insel. Das sind zweieinhalb Kilometer. Das würde eine Körperlänge von etwa 700 Meter bedeuten! Bis heute haben sich keine Anzeichen ergeben, dass es irgendwo ein bekanntes Lebewesen dieser Größe gibt. Es erscheint, dass Pontoppidan oder seine Quellen hier eine erhebliche künstlerische Kreativität an den Tag gelegt haben.

 
Illustration aus Jules Vernes Roman "20000 Meilen
unter den Meeren" - Krake oder Kalmar? [1]
Bild: A. Fehrmann.

Heute kennt man Riesenkraken. Man weiß, dass die auf der Erde vertretenen Spezies der Gattung Enteroctopus höchstens 7,5 Meter Spannweite (als etwa 3,75 Meter Armlänge) erreichen. Zwar gibt es Schilderungen von Riesenkraken, die 9 Meter Spannweite erreichen sollen, aber die einschlägigen Quellen halten diese Maße für unrealistisch. Vieles spricht daher dafür, dass die Bezeichnung Krake vor allem im Deutschen insofern missverständlich ist, da die von Olaus Magnus beschriebenen Maße für einen Riesenkalmar sprechen und nicht für einen Kraken. Vor allem gibt es keine Riesenkraken im Nordatlantik, sondern nur im Nord- und Südpazifik und im Südatlantik.

Jules Verne beschreibt in seinem Roman "20000 Meilen unter den Meeren" die Begegnung der Nautilus mit einigen Riesenkalmaren. Die Bezeichnungen Krake, Kalmar und Polyp werden abwechselnd gebraucht. In Zusammenhang mit dem Kapitel XVIII ergreift Jules Verne außerdem die Gelegenheit, einen Bericht über die Legenden vom Riesenkraken abzuliefern. Unter anderem erwähnt er die Berichte von Olaus Magnus und Pontoppidan, lässt seinen Erzähler aber sogleich relativieren, dass solche Legenden oft geringen Wahrheitsgehalt hätten. 


Vor Teneriffa versucht die Alecton, einen Riesen-
kalmar zu harpunieren. [1] Bild: A. Fehrmann.
 

Im Verlauf der Unterhaltung des Erzählers mit einigen Besatzungsmitgliedern der Nautilus berichtet Jules Verne noch von einer weiteren Begegnung mit einem Seeungeheuer, die tatsächlich so berichtet wird und auf einen Bericht zurückgeht, den Kapitän Bouyer, Kommandant der französischen Korvette Alecton, 1861 abgeliefert hat.

Am 30. November 1861 befand sich die "Alecton" 120 Meilen nordöstlich von Teneriffa, als der Ausguck bei ruhiger See einen großen in der See treibenden Körper meldete. Der Kommandant vermutete ein Wrack und befahl die Annäherung des Schiffes zur Inspektion. Es stellte sich heraus, dass es sich um einen riesigen Kalmar handelte, dessen Körperlänge mit insgesamt zwölf Metern berichtet wird, sechs Meter eigentliche Körperlänge und weitere sechs Meter für die Fangarme.

Während der Annäherung an den riesigen Kalmar schoss die Mannschaft der Alecton auf das Tier. Es stellte sich jedoch heraus, dass der Kalmar nicht leicht zu verletzen war, da die Kugeln von Kanonen und Gewehren offensichtlich, ohne Schaden anzurichten, durch den Weichkörper des Kalmars hindurch fuhren. Auch die Harpunen erwiesen sich als wirkungslos, da sie in dem Weichkörper des Kalmars keinen Halt fanden. Schließlich gelang es der Mannschaft des "Alecton", eine Seilschlinge um den Hinterleib des Kalmars zu werfen. Als man versuchte, das Tier an Bord des Schiffes zu hieven, wurde der Schwanz des Kalmars vom Körper getrennt und das Tier verschwand in der Tiefe. Bis die Alecton einen Hafen erreichte und ihren Bericht abliefern konnte, blieben nur mehr die eidesstattlichen Aussagen von Kommandant und Besatzung als Beweis. ([2])

Obwohl das Kapitel deutsch "Der Angriff der Kraken" heißt, sprechen sowohl die Schilderungen der Mannschaft der Alecton, als auch die zeitgenössischen Illustrationen aus Jules Vernes Roman für einen Riesenkalmar, nicht für einen Kraken. In besonderem Maße spricht dafür die Tatsache, dass der Kopffüßer auf dem Bild Schwanzflossen hat. Kraken haben niemals Schwanzflossen. Jedoch wird auf keinem Bild einer der charakteristischen langen Tentakel gezeigt, und das Tier, das sich vor dem Bullauge der Nautilus präsentiert, sieh einem Kraken erheblich ähnlicher, als einem Kalmar.

 

Zusätzlich scheint die deutsche Bezeichnung "Riesenkrake" heute meist auf Übersetzungsfehler aus dem Englischen zurückzuführen zu sein. Im Englischen bezeichnet "Kraken" nämlich allgemein einen riesigen Kopffüßer. "Giant squid" bezeichnet einen Riesenkalmar, "giant octopus" hingegen einen Riesenkraken. Ein neueres Beispiel für eine solche achtlose Übersetzung ist die deutsche Ausgabe des Buches von Richard Ellis, im Original "The Search for the Giant Squid". Anstatt das Buch, wie es korrekt gewesen wäre, "Die Suche nach dem Riesenkalmar" zu nennen, wählte der Übersetzer, bzw. der Verlag, den Titel "Riesenkraken der Tiefsee", angesichts der Tatsache, dass im ganzen Buch nicht ein einziger Riesenkrake vorkommt, eine sehr fragwürdige Übersetzung.


Abbildung des "Riesenkraken" aus den 
Yahoo News vom 22. Juli 2002.
 

Ebenso achtlos scheinen die Übersetzer der amerikanischen Internet-Firma Yahoo vorgegangen zu sein, die in der deutschen Ausgabe ihrer Internet-Nachrichten davon berichten, dass am 22.07.2002 ein "15 Meter langer Riesenkrake in Australien gefunden" worden sei. Angesichts der Tatsache, dass es in Australien keine Riesenkraken gibt, dass diese darüber hinaus, gäbe es sie, eine Spannweite von höchstens der Hälfte der angegebenen Größe aufweisen, erscheint dies eher unwahrscheinlich.

Im Besonderen interessant ist die mitgelieferte Abbildung des gefundenen "Riesenkraken", die, deutlich erkennbar an Körperform und Flossen, einen Riesenkalmar zeigt. Die langen Tentakel fehlen und sind wahrscheinlich abhanden gekommen, als der Kalmar an Land gespült wurde. Die britische Ausgabe von Yahoo schließlich titelt: "Giant Squid Washes Up on Beach".

Man kann kaum alle Legenden vom Riesenkalmar auf Unwissenheit und falsche Übersetzungen zurückführen. Im Gegenteil. Trotz der Tatsache, dass Riesenkalmare seit fast 200 Jahren wissenschaftlich bekannt sind, hat man bisher niemals einen Riesenkalmar in seiner natürlichen Umgebung beobachten können.

Immerhin ist es japanischen Wissenschaftlern gelungen, lebende Riesenkalmare in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten und z.B. nachzuweisen, dass manche Arten Biolumineszenz verwenden.

Dennoch, bis eines Tages diese Zuflucht eines der letzten Geheimnisse der lebenden Natur endgültig gelüftet worden ist, wird der Riesenkalmar, zumindest zum Teil, weiter das bleiben, was er seit über 3000 Jahren ist - eine Legende.

Literatur:

Links: