Schalenrückbildung (Vitrinisierung) bei Landschnecken


Rötliche Daudebardie (Daudebardia rufa), eine Raubschnecke,
die u. a. Regenwürmer frisst. Quelle:  biolib.cz (Jiří Novák).
 
   

Schalenrest von Limax maximus. (Angezeigt: 2 mm).
Bild: Jonathan Neumann.
 
 
Graugelbe Rucksackschnecke (Testacella haliotidea).
Bild: M. Gurney (Flickr.com). Vergrößern!

Die einheimischen Glasschnecken (Vitrinidae) sind nicht die einzige Schneckengruppe, bei der man eine Schalenrückbildung, nach dieser Schneckengruppe auch als Vitrinisierung bezeichnet, beobachten kann. Eine Rückbildung der Schale bietet vor allem für räuberische Landschnecken entscheidende Vorteile. So können beispielsweise die Gattungen der Unterfamilie Daudebardiinae (Familie Oxychilidae) unterirdisch nach Regenwürmern jagen, ein Vorgang der ihnen mit einer kompletten Schale sehr schwer fallen würde.

Auch die westeuropäisch verbreitete Familie Testacellidae jagt unterirdisch nach Regenwürmern und auch diese haben nur einen kleinen reduzierten Schalenrest auf dem hinteren Rücken, in den sie sich nicht mehr zurückziehen können. Allerdings sind beide nicht näher miteinander verwandt, während die Daudebardien mit den Glanzschnecken (Oxychilidae) verwandt sind, gehören die Testacellen zur Gruppe der Oleacineoidea, verwandt mit Raubschneckenarten wie der rosigen Raubschnecke (Euglandina rosea) und der dalmatinischen Raubschnecke (Poiretia cornea).

Man bezeichnet solche Schnecken auch als Halbnacktschnecken.

Walter Wimmer: Halbnackte Räuber im Harz - Bikinischnecken jetzt entdecken (Abgerufen 06.09.2022).
Francisco Welter Schultes: Daudebardia rufa species homepage.
Francisco Welter Schultes: Testacella haliotidea species homepage.

Den unterschiedlichen Grad der Gehäuserückbildung kann man gut anhand der drei Nacktschneckenfamilien der Wegschnecken (Arionidae), der Schnegel (Limacidae) und der Kielschnegel (Milacidae) beobachten: Während die Schnegel und die Kielschnegel noch einen inneren Schalenrest besitzen, haben Wegschnecken außer einigen Kalkkörnchen, die nach der Auflösung des Weichkörpers zurückbleiben, überhaupt keinen Schalenrest mehr nachweisbar, vergleichbar etwa mit der Situation bei Kraken (Octopodidae), Kalmaren (Loliginidae) und Sepien (Sepiidae) bei den Kopffüßern.

 
Helicarion nigra (Australien). Bild: Lorraine Phelan (Quelle).
   
 
Helicarion mastersi (Australien). Bild: Peter Woodard (Quelle).
   
 
Parmarion martensi (Malaysia). Bild: Bernard Dupont (Quelle).

Eine Schalenreduktion findet allerdings auch bei anderen Schneckengruppen statt, allerdings nicht unbedingt in Verbindung mit einer räuberischen Lebensweise. Daran kann man aber erkennen, dass Nacktschnecken keineswegs nur einmal im Rahmen der Landschnecken entstanden sind, sondern vielmehr mehrfach und unabhängig voneinander.

Die Familie Helicarionidae beispielsweise kommt in der östlichen Paläarktis (vgl. Faunenprovinzen der Erde), Malagasy (Madagaskar), Indien, Südostasien und Australien vor. Der wissenschaftliche Name drückt die Besonderheit der Familie bereits aus: Diese Schnecken sehen aus wie eine Mischung zwischen einer Gehäuseschnecke (Helix) und einer Nacktschnecke (Arion). Verwandt sind die Helicarionidae allerdings eher mit den Schnegeln (Limacidae), als mit den Wegschnecken (Arionidae).

Die in Australien vorkommenden Arten der namengebenden Gattung Helicarion zeigen eine ähnliche Vitrinisierung wie die einheimischen Glasschnecken (Vitrinidae). Während Helicarion nigra noch ein nahezu vollständiges Gehäuse besitzt, ist es bei Helicarion mastersi bereits zum Teil vom Mantel überwachsen. Helicarion mastersi bildet dabei ähnlich wie viele einheimische Glasschnecken, einen Mantellappen, der größere Teile des Gehäuses überdeckt. Bemerkenswert ist auch, dass die Familie Helicarionidae einen Liebespfeil produzieren, der aus Chitin besteht, nicht aus Kalk, wie z.B. bei den Schnirkelschnecken (Helicidae).

Aus Tasmanien wurde 2017 die Gattung Attenborougharion neu beschrieben, die neben einem sehr bunten Erscheinungsbild ebenfalls eine recht weit fortgeschrittene Vitrinisierung zeigt.

Helicarionidae: Auf wikipedia (englische Ausgabe).
Hyman, I., Köhler, F. (2017): Attenborougharion gen. nov.(Mollusca: Pulmonata: Helicarionidae): A likely case of convergent evolution in southeastern Tasmania. Rec. Aust. Mus. 69/2, pp. 65–72.


Dromedar-Springschnecke ("dromedary jumping slug", Hemphillia drome-
darius
). Bild: Kristiina Ovaska (Quelle).
 
Lanzenzahn-Raubschnecke (Haplotrema vancouverense, links) und
Dromedar-Springschnecke (Hemphillia dromedarius, rechts).
Bild: Kristiina Ovaska (Quelle).
 
Eine weitere Familie, in der die Rückbildung des Gehäuses gut beobachtet werden kann, ist bei Kenntnis der einheimischen Fauna erstaunlicherweise die Familie der Wegschnecken (Arionidae). In der europäischen Fauna besteht diese Familie der Landschnecken ausschließlich aus vollständigen Nacktschnecken, die, wie oben bereits erwähnt, das Gehäuse bis auf einige Kalkkörnchen zurück gebildet haben.

Anders ist die Situation allerdings in Nordamerika. Dort kommen Arten vor, die als Dromedarschnecken (Hemphillia dromedarius), oder auch als Springschnecken (jumping slugs) bekannt sind. Dies liegt zum einen daran, dass das Gehäuse noch als größerer Schalenrest vorhanden ist, der nur vom Mantel überwachsen ist und daher eine höckerartige Struktur auf dem Rücken der Schnecke bildet. Der zweite Trivialname rührt von einer besonderen Strategie her, mit der diese Schnecken Fressfeinden zu entkommen versuchen: Mittels Schwanzschlägen gelingt es ihnen, sich windend und quasi springend aus der Gefahrenzone zu bewegen.

Ähnlich sieht auch die gelbschalige Halbnacktschnecke (Parmarion martensi) aus der Familie Ariophantidae aus, die vermutlich aus Südostasien kommend im Westen der USA eingeschleppt wurde und dort, z.B. auf Hawaii, zu einem Agarschädling wurde, die außerdem Nematoden (Rattenlungenwurm Angiostrongylus cantonensis) übertragen kann.

Hollingsworth et al. (2007): "Distribution of Parmarion cf. martensi (Pulmonata: Helicarionidae), a New Semi-Slug Pest on Hawai‘i Island, and Its Potential as a Vector for Human Angiostrongyliasis". Pac. Sci. 61(4): 457-467.
Cowie, R. H., Dillon R. T., Robinson, D. G., Smith, J. W. (2009): "Alien non-marine snails and slugs of priority quarantine importance in the United States: A preliminary risk assessment". Amer. Malac. Bull. 27: 113-132.

Schlussendlich gibt es außerdem Nacktschnecken, die nicht wie die europäischen Nacktschnecken aussehen, bei denen der Mantel nur den vorderen Teil des Tieres einnimmt und wie ein Schild (der Mantelschild) aussieht. So bedeckt beispielsweise bei der nordamerikanischen Nacktschneckenart Megapallifera mutabilis (Familie Philomycidae) der Mantel den gesamten Körper des Tieres (deswegen heißt die Art Megapallifera, also "Träger eines riesigen Mantels"). Schnecken aus der Familie Veronicellidae zum Beispiel sehen wie ein großer herumkriechender Mantel aus, selbst die Fühler schauen nur manchmal darunter hervor. Folglich werden diese Nacktschnecken auch als Leatherleaf slug (Lederblatt-Nacktschnecken) bezeichnet.

Megapallifera mutabilis aus Massachusetts, USA: Bild von Paul J. Morris auf Flickr.com.
Veronicellidae: Caribbean Leatherleaf (Sarasinula plebeia) auf Jaxshells.org.